Trauer und Trauerbewältigung: 5 hartnäckige Mythen der Moderne
Es existieren viele Trauerformen und -konventionen nebeneinander und es lässt sich schlichtweg nicht sagen, welcher Umgang mit Trauer „normal und gesund“ oder „nicht normal und ungesund“ ist. Vielleicht existieren auch gerade deshalb zum Teil einseitige und gänzlich falsche Annahmen zu Trauer und Trauerverarbeitung.
Einige dieser Annahmen und Mythen haben sich in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt und gehören sozusagen zum gesellschaftlichen Regelwerk. Fünf der vielleicht hartnäckigsten Trauer-Mythen greifen wir hier auf und zeigen, dass es sich um unzutreffenden Ansichten, Klischees oder auch Stereotypen handelt:
Mythos Nr. 1: Eine Verlusterfahrung geht immer mit einer intensiven emotionalen Belastung einher. Trauer muss dann „rausgelassen“ werden, sonst wird man krank.
Es wird häufig angenommen, dass ein Verlust unvermeidlich immer ein großes Ausmaß an Verzweiflung und emotionaler Belastung hervorruft. Fehlt solch eine „richtige“ Trauerreaktion, wird in unserer Gesellschaft leicht ein pathologischer Zustand vermutet. Dabei wird oft davon ausgegangen, dass Trauer zwangsläufig zu einem späteren, meist unerwarteten Zeitpunkt auftaucht und zu problematischen Entwicklungen führt.
Die Trauerforschung kann das nicht bestätigen. Längst nicht alle Menschen erleben den Trauerschmerz gleich intensiv. Niemand muss zwangsläufig durch „das Tal der Tränen“ gehen, um später normal weiterleben zu können. Zudem sollten wir uns auch keine Sorgen machen, wenn wir unserer Trauer nicht unmittelbar nach dem Verlust Ausdruck verleihen können oder nicht so tief betroffen sind, wie wir womöglich glauben, sein zu müssen.
Weinen gehört dazu – und Freude empfinden nicht?
Weinen wird häufig als typische emotionale Reaktion auf eine Verlusterfahrung wahrgenommen. Doch Traurigsein und Weinen sind längst nicht die einzigen Trauergefühle: Häufig kommen Angst, Ärger, Wut, Sehnsucht und auch Scham hinzu. Nichts selten ist jemand in Trauer gar nicht in der Lage, seine Gefühle (bewusst) zu erleben. Man ist sozusagen emotional völlig überschwemmt und manchmal auch erst nach längerer Zeit fähig, die eigenen Empfindungen wahrzunehmen.
Trauer ist immer individuell, sie ist weder statisch, noch folgt sie einem konkreten Ablauf. Die Bandbreite möglicher Gefühlsreaktionen reicht in der Trauer von leichter Betroffenheit bis hin zum psychischen Ausnahmezustand. Auch ist es eine Fehlannahme, wenn wir davon ausgehen, dass eine Verlusterfahrung die Fähigkeit verringert, Freude zu empfinden. Keine Freude mehr zu zeigen und nicht mehr zu lachen, hat bedauerlicherweise viel eher mit (vermeintlichen) kulturellen Normen zu tun und weniger mit dem persönlichen Verlust.
Mythos Nr. 2: Trauer muss „durgearbeitet“ werden – ohne „Trauerarbeit“ geht es nicht
Es ist grundsätzlich sinnvoll, sich nach einer Veränderung im Leben emotional damit zu beschäftigen und darüber zu reflektieren. Doch der Begriff „Trauerarbeit“ wird meist mit der Annahme in Verbindung gebracht, dass Menschen sich bewusst mit (schmerzhaften) Trauergefühlen und Gedanken auseinandersetzen müssen, damit sie „bearbeitet“ und überwunden werden können.
Auch hier existieren in Fachkreisen gegenteilige Erkenntnisse: Es lässt sich nicht belegen, dass Menschen, die sogenannte Trauerarbeit leisten, ihren Verlust besser verarbeiten als diejenigen, die ihre Gefühle eher unterdrücken.
Es ist vielmehr so, dass ein stetiger Wechsel zwischen bewusster Trauer und einer Orientierung auf neue Lebensziele als günstigste Strategie gilt. Sich also immer mal wieder von seiner Trauer ablenken, um sich auf das Leben einzustellen zu können, das vor einem liegt – ähnlich wie Kinder es können und in aller Regel ganz von selbst tun.
Eine Konfrontation mit der eigenen Trauer ist hingegen nur dann sinnvoll, wenn jemand den Schmerz über eine längere Zeit aktiv vermeidet, sich gar in Illusionen verliert und den Verlust nicht akzeptieren kann. Solch ein Zustand sollte dann auch professionell begleitet werden.
Mythos Nr. 3: Trauer verläuft in Phasen
Die immer noch weit verbreitete Annahme, dass Trauer in einer festen Abfolge von Phasen verläuft, ist schlicht überholt. Viele Trauernde erleben zweifelsfrei Zustände, die solchen Phasen entsprechen und die Existenz dieser Phasenmodelle kann zumindest als grobe Orientierungshilfe dienen. Anstelle eines gradlinigen Ablaufs erleben viele Trauernde allerdings eher das Hin- und Herpendeln zwischen verschieden Gefühlslagen und eigenen Aspekten und Themen im Leben, die durch den Verlust betroffen sind.
Die größte Schwäche der Theorie der Trauerphasen besteht jedoch darin, dass sie Normen setzt und Trauernden, Angehörigen und potentiell Helfenden völlig falsche Vorstellungen davon vermittelt, wie Trauer und Trauerbewältigung verlaufen – oder zu verlaufen haben.
Mythos Nr. 4: Die Zeit der Trauer ist begrenzt und ungefähr nach einem Jahr abgeschlossen
Die Auffassung, Trauerzeit ließe sich über eine bestimmte Zeitspanne definieren, hält sich hartnäckig. Das sogenannte Trauerjahr gab es schon im antiken Römischen Reich, ist allerdings lediglich eine gesellschaftliche Norm und hat wenig mit tatsächlicher Trauer und Trauerbewältigung zu tun.
Mittlerweile ist sich auch die Trauerforschung einig, dass Trauerreaktionen deutlich länger andauern können, als ein Jahr. Vielmehr trauern Menschen besonders nach einem schweren Verlust wie z. B. des Ehepartners oder des eigenen Kindes nicht selten noch viele Jahre, Jahrzehnte oder ein ganzes Leben lang.
Das bedeutet nicht, Trauergefühle wären stetig gleichbleibend. Sie verändern sich im besten Fall, werden weniger und werden Teil des eigenen Lebens. Damit gilt es nochmals zu betonen: Trauer ist eine individuelle Angelegenheit und hat viele Gesichter. Und gerade deshalb dürfen Aussagen darüber keine Zeitvorgaben enthalten oder vermitteln.
Mythos Nr. 5: Man muss sich emotional von dem Verstorbenen trennen
Die vermeintliche Notwendigkeit, sich nach dem Tod eines Menschen emotional von ihm lösen zu müssen, beruht auf der lange Zeit vorherrschenden Lehrmeinung, dass fortbestehende Bindungen zum Verstorbenen langfristig pathologisch sind. Inzwischen wird jedoch immer mehr anerkannt, dass Hinterbliebene ein ganz natürliches Bedürfnis haben, fortwährend eine Bindung aufrecht zu erhalten – allerdings sollte dies auf bestimmte Art und Weise geschehen:
Die Beziehung zu einem geliebten Menschen ist nach dessen Tod nicht einfach vorüber. Daher ist es wichtig, die Beziehung neu zu definieren. Eine enorm wichtige Funktion von Trauer ist es nämlich, die gemeinsame Zeit mit dem Verstorbenen in die eigene Biographie zu integrieren – die Vergangenheit und das Jetzt anzuerkennen, als etwas, das nun zu einem gehört.
So eine Neudefinition der Beziehung schützt auch davor, dass extreme emotionale Belastungen, wie z. B. ungeklärte Konflikte mit dem Verstorbenen oder gar traumatische Erfahrungen durch möglicherweise dramatische Todesumstände, immer wieder das Bewusstsein überfluten. Zudem hilft diese Neudefinition der Beziehung dabei, offen für neue Bindungen zu sein oder zu werden, positive Aspekte für das Leben danach zu erkennen und sich auf diese einzustellen.
Das Erleben eines Verlustes erfahren viele Menschen immer noch und viel zu häufig als widersprüchlich zu den eigenen Vorstellungen und dem, was die Gesellschaft vermeintlich von ihnen erwartet. Gesellschaftliche Rituale helfen zwar dabei, individuelle Gefühle zu fassen und in sozial akzeptierte Bahnen zu lenken. Doch sie dürfen nicht reglementierend sein und auch nicht Handlungen und Verhalten bewerten oder vorgeben. All das schadet Trauernden grundsätzlich – ein wichtiger Grund, das Wissen über Trauer-Mythen in die Welt zu tragen.
Stephanie Tamm
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Quellen:
GEO WISSEN (2013): „Trauer ist der Preis für die Liebe. Ein Psychologe erklärt, warum man dem Schmerz Zeit geben muss.“ Interview mit Hansjörg Znoj. S. 109-113.
Hansjörg Znoj (2015): „Trauer und Trauerbegleitung in der Palliativmedizin. Symptomatologie der Trauer, irreführende Vorstellungen und moderne Mythen.“ ARS MEDICI 1/2015, Rosenfluh Publikationen AG, S. 40-44.